Sonntag, 16. September 2007

Kontrollfreaks.

Mein neuester Netzfund aus Singapur überrascht mich nur bedingt.

Unter dem Titel "Irresponsible motorists in Singapore" nimmt sich ein anonymer Blogger öffentliche Parksünder der Löwenstadt zur Brust.
Er tut das mit einer Inbrunst, einer Detailgenauigkeit und einem technischen Aufwand (Digitalphotos, Videos auf Youtube.com), die mich erschrecken.
Gleichzeitig passt diese, nennen wir es vorsichtig, Leidenschaft für Ordnung, Sicherheit und alles, „was sich gehört“ – eine Attitüde, die sich in deutschen Gefilden auch nach dem Wegfall des Blockwarts in manchen Landstrichen hartnäckig hält – sehr gut zu diesem Inselflecken in Südostasien.
Die aggressiv-gehemmte Disposition vieler Bewohner, die Angst vor dem Unbekannten, davor, etwas falsch zu machen, aufzufallen, sich Ärger einzuhandeln, ungewohnte Wege zu gehen – bei gleichzeitig zahllosen Regierungsappellen an die Bevölkerung, kreativ zu werden – schlägt sich exemplarisch auf diesem Blog lustvoll in Text und Bild nieder. Die genüsslich und öffentlich vorgetragene Beschwerde, die Befriedigung, sich „im Recht“ zu wissen, korrelieren mit den brav gescheitelten Gymnasiasten, die sehnsüchtig – und „ihre Neugier schlecht getarnt“ (Hannes Wader) – zu den rauchenden, die Haare wild gefärbten Rockern herüberschielen und sie dann doch dem Schulleiter melden, anstatt sich (was sie insgeheim ja viel lieber möchten) dazu zu gesellen.
In einem Land, dessen Rechtssystem nicht ausschließlich, aber ausreichend auf Abschreckung beruht, ducken sich die Bewohner lieber und lassen ihrer Aggressivität anonym und online freien Lauf.
Die Legehenne einer den Tag und die Nacht verleugnenden Hühnerfarm streitet bekanntlich auch eher mit der fliessbandproduktiven Kollegin, als sich zu überlegen, ob es außerhalb der Wellblechhütte nicht ebenso ein Leben geben könnte, in Freiheit, mit frischem Gras, saftigen Regenwürmern und ohne Neonröhren. Ein Leben, in dem ich meinen Frust beim ungestümen Flattern über Wiesenhaine vergessen könnte.
Zu meiner Freude ist zumindest der jährlich im Dezember stattfindende Singapur-Marathon bereits Monate im voraus ausgebucht (Ich sage: zu meiner Freude – weil ich die diesem Sport innewohnende Disziplinierung sehr schätze und das harte Training es mir erlaubt, dem Alltag wortwörtlich mit anderem Ruhepuls zu begegnen).

Gerne hätte ich dem Macher von irresponsiblemotorists.blogspot.com auch eine Startnummer geschenkt.

1 Kommentare:

Anonymous Anonym meinte...

Hi olr,
wie sehr dies das Muster eines Verhaltens ist, das "wirtschaftlich erfolgreiche" Staaten irgendwann verlangen müssen, sehen wir an den innerbetrieblichen klimatischen Veränderungen in INDULA (zur Erinnerung, Helmut Kohls: Im diefem unferem Lannnde …), der zerfledderten Deutschland AG. Die Selbstkontrolle, die Schere im Kopf, das Kanalisieren der Wut in die alten Reviere der Fuß-, Hand-, Tennisball-Arenen, in den Suff, die innerfamiliäre Gewalt funktionieren erschreckend gut, nach wie vor und immer subtiler.
Wie sagte neulich der langgediente Realschulrektor: Früher hatte ich zwei, drei in der Klasse, die ich mitschleifen mußte; heute habe ich zwei, drei, die dem Unterricht folgen können.
Als die Hochschuldozentin ihre Studenten bat, zum angegebenen Thema zu recherchieren, brachten viele aus der "Brigitte" (!) oder anderen Zeitschriften herausgerissene oder aus "dem Netz" kopierte Artikel mit, die so weit von der wissenschftlichen Literatur entfernt waren, wie die Studenten vom Lesesaal einer normalen Universität.
Der Verfall dokumentiert sich wunderbar am vermehrten Auftreten jenes Typus der Persönlichkeit, den die Soziologie in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf der F-Skala verortet hatte: authoritarian personalities. Mögen die demokratischen Spielregeln auch dauerhaft implementiert worden sein, sie sind als kritische den Verängstigten so fremd wie der Widerstand in einer kafkaesk anmutenden, aber heute noch existierenden schwäbisch-mittelständischen Firma, wo der Gott-Chef "es gerne sieht", wenn man zur Kirche geht (in einigen wurde bis vor wenigen Jahren sogar morgens gemeinsam gebetet).
Ich gehöre dazu, wenn ich den Hilfssheriff mime, ich bin ein Teil des starken Armes, der mich zwingt. Ich will auch kontrollieren, wenn ich schon so kontrolliert werde. Ich will, wenn schon kleine Nummer, dann wenigstens sichtbar sein.
Herr Lehrer, im Keller brennt Licht.
Viel Humor weiterhin!

衷心的到新加坡
wr

25. Oktober 2007 um 02:27  

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